1898 – Zwei Bücher über Jesus

Bild oben: Uriah Smith

Genau in diesem Jahr 1898 gehörten beide zu den einflussreichsten Persönlichkeiten in der Adventgemeinde. Um es gleich vorwegzunehmen: Das Buch von Uriah Smith erlebte eine einzige Auflage, das von Ellen White äußerst viele Auflagen. Noch dazu wurde es in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Die Christologie von Uriah Smith

Schon im Jahr 1865 vertrat Smith seltsame Thesen zum Ursprung von Jesus Christus: „[Jesus] ist nicht der Anfänger, sondern der Anfang der Schöpfung, das erste geschaffene Wesen, dessen Erschaffung weit vor allen anderen geschaffenen Wesen oder Dingen zu datieren ist, neben dem aus sich selbst existierenden (self-existent) und ewigen Gott.“[2] In der Ausgabe von 1881 formuliert er etwas vorsichtiger, aber noch immer im gleichen Denkschema: „Christus ist der Akteur, durch den Gott alle Dinge geschaffen hat, aber er selbst kam auf andere Art in Existenz, weil er der eingeborene Sohn (engl. begotten)“ des Vaters genannt wird.“[3] Die Aussagen sind sich sehr ähnlich: 1865 wurde Christus „geschaffen“, 1881 „gezeugt (engl. begotten)“.

Aber schauen wir jetzt zu Aussagen aus seinem Buch über Jesus Christus aus dem Jahr 1898. Leider finden sich dort die gleichen abwertenden Formulierungen:

„Nur Gott ist ohne Anfang. Zum frühesten Zeitpunkt, zu dem es einen Beginn geben konnte – in einem Zeitalter, das so weit zurückliegt, dass es für den beschränkten menschlichen Geist wie die Ewigkeit scheint – erschien das Wort. Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott (Joh 1,1). Dieses ungeschaffene Wort war das Wesen, das in der Fülle der Zeit Fleisch wurde und unter uns wohnte. Sein Anfang war nicht wie der von anderen Wesen im Universum. Dies wird in der geheimnisvollen Ausdrucksweise ,der eingeborene Sohn Gottes‘ (Joh 3,16; 1Joh 4,9; engl. only begotten Son) dargelegt … Das heißt, dass durch einen göttlichen Impuls oder Prozess, nicht durch eine Schöpfung, und nur dem Allwissenden bekannt … der Sohn Gottes erschien.“[4]

Uriah Smith schreibt hier sehr kompliziert und philosophisch (das Englische ist fast noch komplizierter als meine Übersetzung). Wir merken, wie er um die rechten Formulierungen ringt. Aber unter dem Strich sagt er aufs Neue, dass Jesus in grauer Urzeit einen Anfang hatte. Hier noch ein Gedanke aus seiner Feder: „Mit dem Sohn fand die Evolution der Gottheit (evolution of deity) ihren Abschluss“.[5]

Wir staunen über dieses in sich widersprüchliche Gedankengebäude. Jesus Christus soll also einerseits einen Anfang haben und somit nicht wirklich ewig sein, anderseits durch einen evolutionistischen Prozess zu Gott geworden sein. Für mich und wohl die meisten Christen ist das nicht konsequent gedacht, weil Gott per Definition ewig und ohne Anfang ist. Entweder ist Jesus Christus Gott im Vollsinn, oder er wurde „gezeugt“ und kam irgendwann in Existenz. Diese beiden Konzepte sind einfach nicht kompatibel, auch wenn Uriah Smith zu seiner Zeit versuchte, beide Ansätze miteinander zu verbinden.

Wir verstehen also gut, dass seine Ideen über den Ursprung Jesu unbiblisch sind und sich somit in der Adventgemeinde nicht durchsetzen konnten. Trotzdem muss uns bewusst sein, was die Konsequenzen dieses Ansatzes sind, so wie ihn Uriah Smith vertrat: Im Grunde wird in Abrede gestellt, dass der Sohn ganz Gott ist. Damit wird die Basis für eine hierarchische Rangordnung gelegt, in der Gott-Vater immer die wichtigere Rolle einnimmt und der Sohn abgewertet wird.

Die Christologie von Ellen White

Wenn man so will, war das Jahr 1898 eine entscheidende Weggabelung: Entweder die Adventgemeinde folgt Uriah Smith mit seiner stark hierarchischen Christologie und seiner latent antitrinitarischen Haltung, oder sie folgt einer biblischen Christologie.

Allein der folgende Satz aus dem 1898 erschienen Buch Ellen Whites, das wir heute als „Sieg der Liebe“[6] kennen, ist eine klare Ansage:

„In Christus ist ursprüngliches, nicht verliehenes, sondern ureigenes Leben (In Christ is life, original, unborrowed, underived).“ (Sieg der Liebe 512 = LJ 523 = DA 530)

Wenn wir jetzt Uriah Smith und Ellen White direkt miteinander vergleichen, springt der Kontrast noch stärker ins Auge. Smith ging davon aus, dass Jesus Christus einen Anfang hatte, Ellen White behauptet genau das Gegenteil. Smith spekulierte, dass der Sohn irgendwie aus dem Vater hervorging, Ellen White sieht das ganz anders. Natürlich können Uriah Smith und Ellen White nicht gleichzeitig recht haben. Ihre Thesen schließen sich gegenseitig aus.

Wenn ich nochmals zu diesem oben zitierten und berühmten Satz von Ellen White zurückkomme, dann staune ich, wie kurz und prägnant er ist. Noch kürzer geht es gar nicht mehr. Umso klarer tritt ihr Anliegen zutage: Gott-Sohn war in seinem Gott-Sein nicht vom Vater abhängig, er hat es auch nicht von ihm „geerbt“ oder „ableiten“ müssen, sondern besaß schon immer für sich selbst alles, was einen ewigen Gott ausmacht, ohne je einen Anfang zu haben.

Sehen wir uns einige wesentliche christologische Aussagen Ellen Whites von einer chronologischen Perspektive her an:

1897
„Er ist der ewige, aus sich selbst heraus existierende (self-existent) Sohn.“ (Ms 101 =Ev 615 = 12MR 395)

1898
„Er [Jesus] hatte erklärt, der Eine zu sein, der aus sich selbst existiert (self-existent) …“ (SDL 454 = LJ 466 =DA 469)
„In Christus ist ursprüngliches, nicht verliehenes, sondern ureigenes Leben.“ (SDL 512 = LJ 523 = DA 530)

1900
„Christus ist der präexistente, aus sich selbst existierende (self-existent) Sohn Gottes.“ (ST 29.8.1900)

1905
„Von aller Ewigkeit her war Christus mit dem Vater vereint.“ (ST 2.8.1905)

1906
„Seit aller Ewigkeit war Er der Vermittler des Bundes.“ (RH 5.4.1906)
„Christus war Gott im eigentlichen und höchsten Sinn.“ (RH 5.4.1906)

Viele dieser Aussagen Ellen Whites stammen aus der Zeit, als Uriah Smith noch am Leben war. Ellen White hat sich nie auf ihn bezogen und ihn direkt kritisiert, aber offensichtlich wollte sie seine irrigen Thesen richtigstellen.

Immer wieder betont Ellen White, dass Jesus Christus „aus sich selbst existierte (self-existent)“. Diese Aussagen sind erstaunlich, weil Uriah Smith im Jahr 1865 diese Formulierung „aus sich selbst existieren“ keinesfalls dem Sohn, sondern nur dem Vater, zugebilligt hatte. Für Uriah Smith war ein wesentlicher Unterschied zwischen Sohn und Vater der, dass nur der Vater „aus sich selbst existierte“. Ellen White verwendet dieses Attribut jetzt bewusst für den Sohn und wiederholt diesen Gedanken auch immer wieder. Sie stellt Gott-Sohn damit auf die absolut gleiche Stufe wie Gott-Vater.

Uns muss die Tragweite dieser Aussagen bewusst werden. In einer Zeit, in der einige Pioniere noch offen eine andere christologische Sichtweise als Ellen White vertraten, hatte sie den Mut, die Dinge ganz anders darzustellen. Für manche führenden Adventisten kam dies sehr überraschend und sie konnten kaum glauben, dass Ellen White so ganz anders als sie dachte.[7] Trotzdem setzte sich die biblisch viel besser begründbare neue Sicht Ellen Whites durch.

In dieser Zeit der 1890er-Jahre gab es unter den Adventisten noch kaum jemanden, der Jesus Christus als „aus sich selbst heraus existierend (self-existent)“ bezeichnet hätte. Beim Durchforsten der Pioniere fand ich lediglich zwei deutliche Stelle, wo dies geschah, nämlich einerseits in einem Buch von E. J. Waggoner, wo er 1890 formulierte: „Christus … besteht von Natur aus der gleichen Substanz wie Gott und hat Leben in sich selbst. Er wird zurecht Jehova, der aus sich selbst existierende, genannt.“[8] Die zweite Aussage stammt von A. T. Jones aus dem Jahr 1894: „Die Gemeinde Christi ist nicht auf einem Fundament aus Staub gebaut, auch nicht auf einem Felsen, der aus Staub gemacht ist. Sie ist auf den ewigen, aus sich selbst existierenden Felsen gebaut, der Jesus Christus selbst ist.“[9]

Wir können also davon ausgehen, dass Jesus als „der aus sich selbst existierende Sohn“ ein theologisch neuer Gedanke war, den erst Ellen White populär machte. Dank ihrer prophetischen Inspiration und der großen Popularität ihres Buches „Desire of Ages (Sieg der Liebe)“ setzte sich diese neue Christologie durch. Wir dürfen ihren Beitrag in dieser wichtigen theologischen Frage also nicht unterschätzen.

Zusammenfassung

Das Jahr 1898 brachte eine entscheidende christologische Weichenstellung. Bei allem Respekt und aller Hochachtung für die Leistung der Pioniere müssen wir doch feststellen, dass sie nicht unfehlbar waren – auch nicht in theologischen Fragen. Aus dem geschichtlichen Rückblick heraus können wir festhalten, dass sich die Adventgemeinde aus gutem Grund der ausgewogenen und inspirierten Sichtweise Ellen Whites angeschlossen hat. Und das ist auch gut so.


[1] Einige Ideen in diesem Artikel übernehme ich aus: Ty Gibson, The Heavenly Trio, 2020, 51-60 und 75-86.

[2] Uriah Smith, Thoughts, critical and practical, on the Book of Revelation, 1865, 59.

[3] Uriah Smith, Thoughts, critical and practical, on the Book of Revelation, 1881, 73.

[4] Uriah Smith, Looking Unto Jesus, 1898, 10.

[5] Uriah Smith, Looking Unto Jesus, 1898, 13.

[6] Ellen White, Desire of Ages, 1898, 530.

[7] Siehe Johannes Kovar, „Jesus Christus, der einzigartige Sohn Gottes“ Bogi – Aktuelles aus Bogenhofen 39 (Sommer 2021) 16-18.

[8] E. J. Waggoner, Christ and His Righteousness, 1890, 23.

[9] A. T. Jones, „Christ or Peter—Which? Did Peter Have Infallibility to Give?“ The Present Truth 6.12.1894, 773.


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