„Also – wenn Martin Luther das wüsste, dann würde er sich im Grab umdrehen!“ Hast du diesen Satz bereits von einem Protestanten gehört? Ich zwar nicht, jedoch protestieren Protestanten, wenn Adventisten nicht nur die Bibel, sondern auch die Schriften von Ellen White zitieren. Gibt es da nicht Sola Scriptura? Im Allgemeinen wird darunter verstanden, dass nur allein die Bibel als zuverlässige Autorität zitiert werden darf und keine anderen Schriften. Wie ist das mit der Bibel und den Schriften von Ellen White?
Als die Reformatoren vor ca. 500 Jahren das hermeneutische Prinzip Sola Scriptura (übersetzt: „allein (durch) die Schrift“) postulierten, ging es um die Frage, wer die Bibel in Bezug auf die Rechtfertigung des Sünders richtig auslegt: Der Papst? Die Kardinäle? Die Konzilien? Die Kirchenväter? Wer hat bei Widersprüchen das letzte Wort? Luthers Antwort war revolutionär: Die Schrift ist in sich selbst deutlich genug, so dass sie ihr eigener Ausleger ist („sacra scriptura sui ipsius interpres“). Die Aussage der Bibel ist ganz klar: es braucht zur Erlösung des Menschen kein zusätzliches Werk, keine Wallfahrt, keine menschliche Autorität, keine Leistung. Der Sünder wird allein durch den Glauben (sola fide), allein aus Gnade (sola gratia), allein durch Christus (solus christus) gerettet.
Es geht bei Sola Scriptura also um die Frage der Rechtfertigung. Luther meinte damit nicht, dass es keine weiteren Offenbarungen von Gott oder zusätzlich Bücher geben durfte. Er war selbst ein fleißiger Schreiber und viele seiner Schriften sind erhalten geblieben und werden von Protestanten weiterhin zitiert.
Die röm.-kath. Kirche reagierte auf dieses hermeneutische Prinzip beim Konzil von Trient (1545-1563). In der 4. Sessio von 1546 wurde per Dekret festgehalten, dass die göttliche Wahrheit nicht allein in der Schrift, sondern in der Verbindung von Schrift und Tradition zu finden ist. Dadurch wurden die Bibel und die Überlieferung (Tradition) als gleichberechtigt auf eine Stufe gestellt. Bei Widersprüchen zwischen Tradition und Bibel legt in der röm.-kath. Theologie die Tradition die Bibel aus. Nach Ansicht der röm.-kath. Kirche hätte die Bibel selbst auch erst durch die Kirche ihre Autorität erlangt, denn das kirchliche Lehramt habe den Kanon der Bibel festgelegt (und beim Konzil die Apokryphen offiziell hinzugefügt). Somit wurde der reformatorische Grundsatz Sola Scriptura entschieden abgelehnt.
Als Adventisten bekennen wir uns zum hermeneutischen Grundprinzip Sola Scriptura. Die Frage der Erlösung des Sünders wird in der Bibel deutlich beantwortet. Die Heilige Schrift spricht aber auch davon, dass in den letzten Tagen Männer und Frauen weissagen werden (Joel 3,1-3; Apg 2,14-21; 1Kor 11,5). Jesus hat noch mehr zu sagen (Joh 16,12). Er warnte nicht vor allen Propheten, sondern vor den falschen (Mt 7,15; 24,11.24). Die Gabe der Prophetie gab es in der frühen Christengemeinde (Röm 12,6; 1Kor 12,4-11.28-31; 14,1.6.22; Eph 4,11-13). Weissagung wird zwar einmal aufhören (1Kor 13,8), aber erst, wenn sich die Verheißung der Wiederkunft Jesu erfüllt hat, denn „die Weissagung ist nicht für die Ungläubigen, sondern für die Gläubigen“ (1Kor 14,22) und „ehe der große und schreckliche Tag des Herrn kommt“, sendet Gott den „Propheten Elia“ (Mal 3,23). Demnach möchte Gott weiterhin durch Propheten zu seinem Volk sprechen, auch wenn diese nicht mehr Teil des biblischen Kanons sind. Deshalb gibt er seiner Endzeitgemeinde das „Zeugnis Jesu“, d.h. die Gabe der Prophetie (Off 12,17; 1,1-2; 22,9) – denn „das Zeugnis Jesu ist der Geist der Weissagung“ (Off 19,10).
Ein echter Prophet ist also immer ganz inspiriert, egal ob seine Schriften im biblischen Kanon aufgenommen wurden oder nicht, denn wahre Weissagungen kommen von Heiligen Geist und werden nicht durch menschlichen Willen hervorgebracht (2Pt 1,20.21; 2Tim 3,16). Auch nach Abschluss des biblischen Kanons kann ein Mensch Träume und Visionen von Gott empfangen. Das ist kein Widerspruch zu Sola Scriptura, sondern entspricht der Schrift. Für uns gilt: „Den Geist dämpft nicht! Die Weissagung verachtet nicht! Prüft alles, das Gute behaltet!“ (1Thess 5,19-21).
Um zu prüfen, ob der Prophet vom Heiligen Geist inspiriert ist, braucht es wiederum die Bibel. Ein echter Prophet wird sich unter die Autorität der Bibel stellen. Er wird die Bibel erhöhen und nicht sich selbst oder seine Schriften. Seine Botschaft wird in Harmonie mit der Bibel sein und ihr nicht widersprechen. Er wird Sünde beim Namen nennen und den Sünder auf seine einzige Rettung, auf Jesus Christus, hinweisen (Hier ist eine Liste mit Kennzeichen eines echten Propheten).
Die 28 Glaubenspunkte der Adventgemeinde gehen nicht auf die Visionen von Ellen White zurück, sondern allein auf die Bibel. Im 18. Glaubenspunkt heißt es dazu: „Ihre Schriften sprechen mit prophetischer Autorität und geben der Gemeinde Trost, Führung, Unterweisung und Zurechtweisung. Sie [ihre Schriften] heben auch deutlich hervor, dass die Bibel der Maßstab ist, an dem alle Lehre und Erfahrung geprüft werden muss.“ Ellen White weist selbst auf die Bibel als Maßstab hin. Das ist Sola Scriptura.
Lassen wir Ellen White selbst zu Wort kommen. Welche Bedeutung gibt sie der Heiligen Schrift?
»Führt die Sabbatschulbetrachtung nicht in einer trockenen und geistlosen Weise durch. Hinterlasst im Denken der Leute den Eindruck, dass die Bibel und die Bibel allein die Richtschnur unseres Glaubens ist und Aussagen und Handlungen von Menschen nicht der Maßstab für unser Lehren oder Handeln sind.« (Ratschläge für die Sabbatschule, S. 71.3)
»Wenn Gottes Wort studiert, verstanden und befolgt wird, wird ein helles Licht in die Welt hinausstrahlen; neue Wahrheiten, die wir aufnehmen und befolgen, werden uns fest an Jesus binden. Die Bibel, und nur die Bibel, soll unser Glaubensbekenntnis sein, das einzige Band der Einheit; alle, die sich vor diesem heiligen Wort beugen, werden in Harmonie sein. Unsere eigenen Ansichten und Ideen dürfen unsere Bemühungen nicht bestimmen. Der Mensch ist fehlbar, aber Gottes Wort ist unfehlbar. Anstatt miteinander zu streiten, sollen die Menschen den Herrn preisen. Lasst uns allen Widerständen begegnen, wie es unser Meister tat, indem er sagte: „Es steht geschrieben.“ Lasst uns die Fahne hochhalten, auf der steht: Die Bibel ist unsere Regel des Glaubens und der Disziplin.« (Review and Herald, 15. Dezember 1885)
In einem Brief an George Ide Butler schrieb Ellen White am 1. Juni 1903: »Wir haben damals den Standpunkt eingenommen, dass die Bibel, und nur die Bibel, unsere Richtschnur sein soll, und wir werden niemals von diesem Standpunkt abweichen. … Siebenten-Tags-Adventisten müssen die Bibel erforschen, damit sie die Gründe für ihren Glauben erkennen können.« (Lt105-1903.5.11; to G. I. Butler, June 1, 1903)
»Heutzutage weicht man von ihren [Reformatoren] Lehren und Weisungen massiv ab, und deshalb gilt es zu jenem bedeutsamen Prinzip des Protestantismus zurückzukehren, wonach die Bibel und die Bibel allein der Maßstab für Glaube und Handeln ist.« (Vom Schatten zum Licht, S. 189.1)
»Entweder kommt dieses Werk von Gott oder nicht. Niemals arbeitet Gott mit Satan zusammen. Entweder trägt meine Arbeit … den Stempel Gottes oder den Stempel des Feindes. In dieser Sache gibt es keinen Mittelweg. Die Zeugnisse kommen entweder vom Geist Gottes oder vom Teufel.« (Testimonies 4, 230)
»Was Unfehlbarkeit betrifft, habe ich das niemals beansprucht. Gott allein ist unfehlbar. Sein Wort ist wahr „bei dem keine Veränderung ist, noch ein Schatten infolge von Wechsel.“ (Jak 1,17)« (Selected Messages 1, 37)
»Meine erste Pflicht ist es, die biblischen Grundsätze (Prinzipien) darzulegen. Erst dann, wenn es keine entschiedene, gewissenhafte Reform bei denen gibt, deren Fälle mir gezeigt wurden, muss ich sie persönlich ermahnen.« (Ellen G. White to S. McCullagh, July 11, 1896 = Letter 69, 1896 = Selected Messages 3, 30)
»Ich habe ein Werk von großer Verantwortung zu tun – durch Stift und Stimme nicht nur Siebenten-Tags-Adventisten die Unterweisung weiterzugeben, die ich erhalten habe, sondern an die ganze Welt. Ich habe viele dünne und dicke Bücher veröffentlicht, von denen einige in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Das ist mein Werk – anderen die Heilige Schrift zu öffnen, so wie Gott sie für mich geöffnet hat.« (Testimonies 8, 236.2)
Hinweis: Ellen White sieht sich selbst nicht als unfehlbaren Bibelkommentar (siehe Zitat oben). Es geht um die Prinzipien, die in der Bibel vorhanden sind. Weil Menschen die Bibel nicht lesen, sieht es Ellen White als ihre Aufgabe an, die Menschen mit den Prinzipien der Bibel vertraut zu machen. Dadurch weist sie erneut auf die Bibel als alleinigen Maßstab hin.
Am 30. April 1871 hatte Ellen White einen Traum, der zu einer sehr bedeutenden Aussage fürhte, was das Verhältnis ihrer Schriften zur Bibel betrifft. Sie sah sich vor einer großen Gemeinde und sprach: »Ihr seid mit der Bibel nicht vertraut. … Wenn ihr Gottes Wort studiert hättet, mit dem Wunsch, den biblischen Standard zu erreichen und christliche Vollkommenheit zu erlangen, dann hättet ihr die Zeugnisse [engl. Testimonies] nicht gebraucht [Hinweis: Sie spricht von ihren Ermahnungen/Ermutigungen, nicht von all ihren Schriften]. Weil ihr es versäumt habt, euch mit dem inspirierten Buch Gottes vertraut zu machen, hat Gott versucht, euch durch einfache, direkte Zeugnisse zu erreichen. … Der Herr beabsichtigt, euch durch die gegebenen Zeugnisse zu warnen, zurechtzuweisen, zu beraten und euren Verstand mit der Bedeutung der Wahrheit seines Wortes zu beeindrucken. Die schriftlichen Zeugnisse sollen kein neues Licht geben, sondern die bereits geoffenbarten Wahrheiten der Inspiration lebendig in das Herz einprägen.« (Testimonies 2, 605f)
Ellen White vergleicht ihre Zeugnisse (ihre Ratschläge, Ermahnungen und Ermutigungen) mit einem kleinen Licht, das zum großen Licht (der Bibel) hinführt: »Der Bibel wird wenig Beachtung geschenkt, und der Herr hat ein geringeres Licht gegeben, um Männer und Frauen zu dem größeren Licht zu führen.« (“Dear Brethren and Sisters,” RH, Jan 20, 1903, 15)
In ihrem ersten veröffentlichten Traktat schrieb Ellen White: »Ich empfehle dir, lieber Leser, das Wort Gottes als Maßstab für deinen Glauben und dein Handeln. An diesem Wort sollen wir uns messen lassen. Gott hat in diesem Wort versprochen, in den „letzten Tagen“ Visionen zu geben, nicht um eine neue Glaubensregel aufzustellen, sondern um sein Volk zu trösten und diejenigen zu korrigieren, die sich von der biblischen Wahrheit entfernen.« (A Sketch of the Christian Experience and Views of Ellen G. White (Saratoga Springs, NY: James White, 1851), S. 64)
Ellen White sagte deutlich, dass ihre Schriften keine zusätzliche Bibel sind. In einem Brief an W. B. Wessels schrieb sie: »Bruder J. versucht den Verstand zu verwirren, indem er den Anschein erweckt, dass das Licht, das Gott durch die Zeugnisse gegeben hat, ein Zusatz zum Wort Gottes sei. Damit stellt er aber die Sache in einem falschen Licht dar. Gott hat es für richtig gehalten, auf diese Weise den Verstand seines Volkes auf sein Wort zu lenken, um ihm ein klareres Verständnis davon zu geben.« (an P. W. B. Wessels, March 17, 1893 (Letter 63, 1893), Ellen G. White Estate, Silver Spring, MD; zitiert in Selected Messages 3:31)
An Familie Sanderson schrieb Ellen White 1901: »Der Herr möchte, dass ihr eure Bibeln studiert. Er hat kein zusätzliches Licht gegeben, das an die Stelle seines Wortes tritt. Dieses Licht soll verwirrte Gemüter zu Seinem Wort führen, das, wenn es gegessen und verdaut wird, wie das Lebenselixier der Seele ist.« (an Br. and Sr. Sanderson, September 27, 1901 (Letter 130, 1901), Ellen G. White Estate, Silver Spring, MD; zitiert in Selected Messages 3:29)
»Der Geist wurde nicht gegeben – und kann auch nie gegeben werden -, um die Bibel zu ersetzen; denn die Heilige Schrift sagt ausdrücklich, dass das Wort Gottes der Maßstab ist, an dem alle Lehre und Erfahrung geprüft werden muss. . . . Jesaja erklärt: Jesaja 8,20: Zum Gesetz (Wort) und zum Zeugnis…« (Vom Schatten zum Licht, S. 12)