Andreasen, der unvollkommene Däne*

Das theologische Thema „Perfektionismus“ hängt eng mit der „Theologie der letzten Generation“ und der „Natur Jesu“ zusammen. Unter den Vertretern dieser Denkrichtung sticht ein Name besonders heraus: M. L. Andreasen. Wer war dieser Mann?

Der Weg zu Gott (1876-1898)

Milian Lauritz Andreasen (von seinen Eltern Lauritz gerufen) wurde am 4. Juni 1876 in Kopenhagen, Dänemark, geboren. Seine Eltern arbeiteten von früh bis spät als Schneider für das dänische Königshaus. Dabei vernachlässigten sie oft ihre Kinder, was wahrscheinlich mit dazu beitrug, dass fast alle Geschwister noch im Kindesalter starben. Auf dem Küchenofen stand gewöhnlich eine Kaffeekanne und eine Obstsuppe. Die Mutter überließ es den Kindern, sich zu bedienen. Im Alter von drei Jahren wurde Andreasen von seiner Mutter beauftragt, mit einer Tabakpfeife die Blätter der Zimmerpflanzen zu „räuchern”. Von klein auf trank Lauritz Bier und lernte von seinem Onkel das Pokern. All diese Sünden hat Andreasen nach seiner Bekehrung erfolgreich überwunden.

Die meisten Dänen gehörten damals zur Evangelisch-Lutherische Volkskirche (folkekirken). Lauritz sang sonntags im Knabenchor. Während der Predigt verließen die Buben leise das Chorgestühl, um draußen zu spielen. Einer wurde als Wächter zurückgelassen, um alle rechtzeitig zurückzurufen. Dieser verantwortungsvolle Posten fiel oft Lauritz zu. Er verfolgte dadurch die Predigten sehr aufmerksam, um zu erkennen, wann er die anderen zurückrufen sollte. Dadurch erwarb er eine gute Allgemeinbildung über die Bibel . Mit 14 Jahren (1891) wurde Lauritz konfirmiert, ohne genau zu wissen, was genau ein Christ ist.

Aufgrund schwieriger Umstände und um Lauritz eine bessere Zukunft zu bieten, entschieden sich die Eltern für einen Neuanfang in Kanada. In Winnipeg fanden sie Arbeit als Schneider und ließen sich in der skandinavischen Siedlung nieder. Lauritz beendete seine Schulbildung und erwies sich als sehr sportlich. Im Winter schlitterte er übers Eis und im Sommer tauchte er in tiefen unbekannten Gewässern. Er scheute dabei kein Risiko. Einmal tauchte er so tief, dass er sich sein Trommelfell schwer verletzte, was sein Gehör für den Rest seines Lebens beeinträchtigte.

Während Andreasen bisher nur die Evangelisch-Lutherische Volkskirche kannte, lernte er in Winnipeg verschiedene Konfessionen kennen. Er stellte fest, dass jede Konfession behauptete, die Richtige zu sein, während sie gleichzeitig auflistete, was bei den anderen nicht stimmte. So entschied sich Andreasen, Religion vorerst beiseite zu lassen und sich von Kirchen fernzuhalten.

Mit 18 Jahren (1894) suchte sich Lauritz – nachfolgend Andreasen genannt – Arbeit als Schneider und fand eine Anstellung in der Gretna, eine Stadt direkt an der Grenze zu den Vereinigten Staaten. Die Arbeit war nicht anstrengend, wodurch er viel Zeit zum Lesen fand. Er interessierte sich vor allem für atheistische Literatur und übernahm die Argumente gegen das Christentum und die Glaubwürdigkeit der Bibel. Wenn sich die Gelegenheit bot, diskutierte er mit anderen und ging oft als Sieger hervor.

In Gretna hatte er den Auftrag, so viel Meterware Seide wie möglich in Büffelmäntel einzunähen. Die Besitzer der Mäntel fuhren damit über die Grenze und verkauften den Inhalt in den Vereinigten Staaten. Ohne es zu wissen, wurde Andreasen dabei in Schmugglergeschäfte verwickelt. Als er es herausfand, wanderte er in die Vereinigten Staaten aus.

Über verschiedene Orte kam er nach Council Bluffs, Iowa (an der Grenze zu Nebraska), wo er wieder Arbeit als Schneider fand. Hier lernte er junge Siebenten-Tags-Adventisten kennen, mit denen er über Religion diskutierte. Eines Tages kam ein Prediger in die Stadt. Er begeisterte Andreasen für biblische Prophetie und überzeugte ihn vom Sabbat. Andreasen kaufte sich das Buch von Uriah Smith Daniel and the Revelation und entschied sich, ab sofort den Sabbat zu halten – alleine, ohne Kirche. Aber nach ein paar Wochen wurde er neugierig und ging zum Gottesdienst. Dort wurde er so herzlich aufgenommen, dass er blieb. Man bat ihn die Lieder auf der Orgel zu begleiten. Er kam auch, um die Gemeinde zu putzen und wenn er allein war, dann predigte er vor leeren Stühlen. Andreasen war 19 als er getauft wurde.

Es war auch in Council Bluffs, dass Andreasen seine zukünftige Frau Annie Nelsen kennenlernte. Sie arbeitete als Buchevangelistin und Bibelarbeiterin. Beide heirateten im Frühling 1896. Sie waren 52 Jahre verheiratet, bis Annie 1948 starb. Gemeinsam hatten sie zwei Töchter, Vesta (1897) und Eunice (1901).

Ausbildung zum Dienst (1898-1902)

Ermutigt und unterstützt von seiner Frau, begann Andreasen darüber nachzudenken, Prediger zu werden. Er fuhr von Council Bluffs ins ca. 100 km entfernte Union College in Lincoln (Nebraska) und fragte, ob er in zwei Jahren abschließen könne, denn er glaubte, dass Jesus noch vor 1900 wiederkomme. Weil ihm jedoch drei Jahre angeboten wurden, lehnte Andreasen ab.

Im Jahr 1898 hielt Luther W. Warren (1864-1940), der Gründer der Kinder- und Jugenddienste der Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten, Vorträge in Omaha, Nebraska. Er gründete dort ein Kinderheim und lud Andreasen mit seiner Frau ein – unentgeltlich – die Co-Leitung zu übernehmen. Eines Tages erkrankte dort die Lehrerin Pearl West an Typhus. Luther Warren betete für sie und als Pearl West später von Ärzten untersucht wurden, fand man keine Spuren von Typhus mehr. Dieses Wunder hat Andreasen sehr beeindruckt.

Andreasen gefiel zwar die Arbeit im Kinderheim, aber er verspürte doch den Drang, Prediger zu werden. Als E. A. Sutherland (1865-1955) 1898 in einem Artikel junge Leute zur einjährigen Ausbildung nach Battle Creek rief, nahm Andreasen den Ruf an und zog 1899 mit seiner Familie dort hin. Seine Lehrer waren u. a. Sutherland, Uriah Smith und A. T. Jones, mit dem er viel Zeit verbrachte. Er lernte auch in Battle Creek Dr. J. H. Kellogg (1852-1943) kennen,

Die Bibel sollte sein einziges Lehrbuch sein. Nach seiner Ausbildung in Battle Creek bat ihn die Vereinigung, gemeinsam mit L. H. Christian (1871-1949) bei missionarischen Zeltversammlungen unter skandinavischen Einwanderern zu helfen. Andreasen setzte sich ins Publikum und forderte Pastor Christian zu einer theologischen Debatte heraus. Das sprach sich schnell herum und viele Besucher kamen zu den Vorträgen. Familie Andreasen lebte von den Geldspenden der Besucher. Weil diese Vorträge sehr erfolgreich waren, wurde Andreasen 1902 im Alter von 26 Jahren als Prediger eingesegnet.

Prediger, Vorsteher, Lehrer, Schulleiter (1902-1950)

Nach fünf Jahren in Chicago wurde Andreasen 1905 nach Brooklyn, New York, versetzt, wo er die Arbeit unter skandinavischen Einwanderern fortsetzte. Seine Zeltversammlungen waren sehr erfolgreich. 1908 wurde er zum Vorsteher der Vereinigung berufen (Greater New York Conference). Nebenbei absolvierte er erfolgreich die „New York Regents Examinations“ (vergleichbar mit Abitur/Matura). ).

Im Mai 1909 besuchte Andreasen als Delegierter die Generalkonferenz auf dem Washington Missionary College (heute Columbia Union College), wo Ellen White zum letzten Mal vor einer Generalkonferenz sprach. Während sie die Bibel hochhielt, sagte sie „Brüder und Schwester, ich empfehle euch dieses Buch.“ Am 17. Juni 1909 bekam Andreasen die amerikanische Staatsbürgerschaft.

Im gleichen Sommer nutzte Andreasen die Gelegenheit, Ellen White persönlich in ihrem Heim in Elmshaven, Kalifornien, zu besuchen. Er dachte, weil Ellen White nur wenig Schulbildung hatte, dass sie weder solch ein schönes Englisch noch so hervorragende theologische Aussagen selbst geschrieben haben könnte. Ellen White gab ihm freien Zugang zu allen ihren Schriften, auch ihren persönlichen Briefen. Andreasen bestätigte die Authentizität ihrer Aussagen, war beeindruckt von ihrem guten Englisch und staunte über ihre tiefen theologischen Aussagen:

Als ich mich schließlich von ihr verabschiedete, war ich zutiefst davon überzeugt, dass ich einer Offenbarung und einem Werk gegenübergestanden hatte, deren Ursprung ich nur auf der Grundlage göttlicher Führung sehen kann. Ich war überzeugt, dass ihr Werk von Gott war, dass ihre Schriften unter der Führung Gottes entstanden und dass sie eine Botschaft sowohl für die Welt als auch für das Volk Gottes hatte.

Aus einem unveröffentlichten Manuskript von Andreasen, zitiert in Steinweg, S.78.

Im Oktober 1909 entschied die Generalkonferenz, ein dänisch-norwegisches theologisches Seminar in Minnesota (damals Hutchinson) zu eröffnen. Von den dänischen Lutheranern konnte für diesen Zweck sehr günstig ein passendes Gebäude erworben werden. Andreasen wurde gebeten, die Leitung zu übernehmen. Die Schule eröffnete am 28. September 1910 mit 82 Studenten.

Nachdem Ellen White am 16. Juli 1915 in „Elmshaven“, St. Helena, Kalifornien, verstorben war, wurde sie am 24. Juli in Battle Creek, Michigan, beigesetzt. Andreasen war einer der 6 Ehrenträger, die den Sarg zur letzten Ruhestäte begleiteten.

Im Jahr 1918 wurde Andreasen von H. A. Morrison, dem Präsidenten am Union College in Lincoln, Nebraska, eingeladen, Dogmatik und Geschichte zu unterrichten. An der Universität von Nebraska (in Lincoln) holt er neben seiner Lehrtätigkeit seinen B.A. und M.A. nach. Vier Jahre darauf ging er für 2 Jahre als Bibellehrer ans Washington Missionary College. In dieser Zeit wurde er gebeten, ein Quartals-Thema für die Sabbatschule zu erarbeiten. Diese erschien im 4. Quartal 1924 unter dem Titel „The Christian Life“ (das christliche Leben).

Im Jahr 1924 folgte Andreasen dem Ruf zum Präsidenten der Minnesota Conference (Vereinigung). Als Präsident gehörte er auch zum Schulausschuss des Union College, wo es große Probleme gab. Als 1931 ein neuer Schulleiter gesucht wurde, schlug man Andreasen vor, der die Herausforderung annahm. Nach Morrison hatte es seit 1922 vier weitere Präsidenten gegeben, die nur wenig länger als 2 Jahre im Amt geblieben sind (vgl. Homepage der Schule). Andreasen blieb sieben Jahre, bis 1938, und führte die Schule durch die Krise. Die Schülerzahlen nahmen zu, die Schulden reduzierten sich, der Campus wuchs und viele Schüler gingen in die Missionsarbeit. Union College erhielt unter Andreasen die staatliche Anerkennung!

Die Generalkonferenz startete 1934 die „Advanced Bible School“ am Pacific Union College in Angwin, Kalifornien. Ab 1937 wurde dies das „Seventh-day Adventist Theological Seminary“ (SDATS) und wechselte an die Generalkonferenz in Takoma Park, Washington, D.C. (seit 1960 gehört es zur Andrews Universität). Andreasen gehörte ab 1935 neben seiner Leitung am Union College zum Direktorium des SDATS, wo er systematische Theologie und biblische Exegese unterrichtete. 1937 brachte er sein sehr einflussreiches Buch The Sanctuary Service (Der Heiligtumsdienst) heraus. Ab 1938 wechselte er ganz nach Takoma Park, wo er bis zu seinem Ruhestand einige Prediger- und Lehrergenerationen geprägt hat.

Seine Studenten beschreiben „Prof. Andreasen“ als sehr gewissenhaft, ja fast perfektionistisch. Bei Treffen war er überpünktlich vor Ort und blieb, bis alle gegangen waren. Bevor er auf Fragen eine Antwort gab, nahm er sich Zeit zum Nachdenken. Seine Entscheidungen stellte man lieber nicht in Frage. Bei der Benotung empfingen seine sehr guten Studenten gewöhnlich ein C, aber niemals ein A. Hinter Andreasens Schreibtisch im Klassenzimmer stand gut lesbar „Think Things Through!“ („Denk Dinge Durch!“). Er ermutigte seine Studenten, gründlich nachzudenken und wertzuschätzen, was sie entdeckt hatten.

Ruhestand (1950-1962)

Seinen aktiven (Un-)Ruhestand begann Andreasen 1950 kurz vor seinem 74. Geburtstag. Seine Ehefrau Anni war 1948 nach 52 Jahren Ehe verstorben. Freunde von Andreasen brachten ihm eine alleinstehende Krankenschwester, Gladys Grounds, die sich um ihn kümmern sollte. Andreasen heiratete sie 1950 und zog nach Kalifornien: zuerst nach Alhambra, ab 1952 nach Felton und ab 1955 nach Glendale.

So richtig unruhig wurde es 1957, als die Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten das Buch Questions on Doctrine (QOD) veröffentlichte. Andreasen war der Meinung, dass die darin beschriebenen Ansichten über Versöhnung (engl. atonement) und die Natur Jesu nicht dem entsprachen, was Siebenten-Tags-Adventisten immer geglaubt hatten. Es widersprach seiner Ansicht nach auch dem, was Ellen White schreibt und wie er es selbst in seinen Bücher, vor allem in The Sanctuary Service (Der Heiligtumsdienst), dargelegt hatte (besonders im Kapitel „The last Generation“ (die letzte Generation). Außerdem hieß es, dass 250 Personen das Manuskript vor der Veröffentlichung zur Durchsicht gelesen hatten. Warum hatte man Andreasen nicht gefragt? Er sah sich als Experte zu diesem Thema. Die Debatte wurde von Andreasen angeheizt, bis schließlich die Generalkonferenz 1961 ihm seine Beglaubigung entzog. Auf dem Sterbebett versöhnte sich Andreasen mit denen, die er kritisiert hatte. Er starb am 19. Feb. 1962 in seinem 86. Lebensjahr in Glendale, Kalifornien. Die Generalkonferenz sprach ihm am 1. März seine Beglaubigung wieder zu und listete im Jahrbuch seinen Namen wieder auf.

Kontribution

M. L. Andreasen diente fast 60 Jahre der Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten in verschiedenen Aufgaben und Funktionen und prägte durch seine Lehrtätigkeit und seine Bücher einige Generationen von Predigern und Lehrern. Seine Ansichten über das Heiligtum, den Erlösungsplan und vor allem über die Bedeutung der letzten Generation, also der Gläubigen, die die Wiederkunft von Jesus Christus erleben, führt bis heute zu Diskussionen. Leider hat Andreasen sich selbst im hohen Altern nicht an seinen Maßstab von Vollkommenheit gehalten, als er mit den Verantwortungsträgern seiner Kirche über das Thema debattierte. Es ist ihm durchaus hoch anzurechnen, dass er sich auf dem Sterbebett versöhnt hat. Und doch hat er ein Erbe hinterlassen, das Potential hat, die Gemeinde bis in die Gegenwart zu spalten. Mögen wir bedenken, dass an den Früchten die „wahren Propheten“ erkannt werden.

*Dieser Artikel basiert hauptsächlich auf dem Buch von Virginia Steinweg, Without Fear or Favor: The Life of M. L. Andreasen (Washington: Review and Herald, 1979). Online Version. Steinweg lässt darin Andreasen oft selbst zu Wort kommen. Eine gekürzte Version dieses Artikels erschien in der Jugendzeitschrift Salvation & Service, Ausgabe 63, 3/2020.

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