Ellen White und die Reformbewegungen ihrer Zeit

Mitte des 19. Jahrhunderts war eine Zeit vieler Reformen. In Nordamerika standen dabei auch Frauen mit an vorderster Front. In fast allen Bereichen waren Reformen dringend notwendig, denn das 19. Jahrhundert war – manchem nostalgischen Western-Fan zum Trotz – alles andere als eine „gute alte Zeit“ (George Knight beschreibt in das Leben im 19. Jahrhundert in seinem Buch Ellen Whites Leben und Welt, Lüneburg: Advent-Verlag, 2001, S. 179ff, 263ff).

Diese Reformen waren großteils religiös motiviert. Bedeutende politische Ereignisse im 18. Jahrhundert (u.a. das Erdbeben und die fast vollständige Zerstörung der Stadt Lissabon am 1. November 1755, die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten mit der Erklärung vom 4. Juli 1776, die Französische Revolution ab 1789, die Eroberungskriege Napoleons bis zur Absetzung von Papst Pius VI. durch General Louis-Alexandre Berthier im Jahr 1798) weckten das Interesse an der biblischen Prophetie. Eine rege Endzeiterwartung kam auf. LeRoy Froom dokumentiert, dass auf über 75 Forscher die Auslegung der 2300-Tage-Prophezeiung aus Daniel 8,14 auf die Mitte des 19. Jahrhunderts deuteten (LeRoy E. Froom, The Prophetic Faith of our Fathers, Band 4, Washington DC: Review and Herald, 1994, 403-406). Auch Christen, die glaubten, dass ein 1000-jähriges Friedensreich der Wiederkunft Jesu vorausgehe (Postmillennarismus), erwarteten dessen Beginn zu dieser Zeit. Durch Reformen in der Gesellschaft wollte man dieses Tausendjährige Reich herbeiführen.

William Miller (1782-1849) und seine Anhänger (Milleriten) erwarteten die Wiederkunft Jesu früher, nämlich am Anfang des Millenniums (Prämillennarismus). Sie engagierten sich ebenfalls in Reformbewegungen, um die Welt auf die Wiederkunft vorzubereiten. Kapitän Joseph Bates (1792-1872) gründete und engagierte sich z. B. in Mäßigkeits-, Matrosen-, Traktat- und Anti-Sklaverei-Gesellschaften.
Die größten Reformen bewirkten die Anti-Sklaverei-Bewegungen (Joseph Bates entsagte mit 29 Jahren (1821, im Geburtsjahr von James White) dem Alkohol, mit 35 (1827, im Geburtsjahr von Ellen White) bekehrte er sich zu Jesus Christus und mit 51 (1843) wurde er Vegetarier).

Der blutige Bürgerkrieg von 1861-65 war der Höhepunkt dieser Debatte. In Erweckungsversammlungen ab 1820 wurden viele Sünden angeprangert, darunter auch die der Sklaverei. 1833 wurde die „American Anti-Slavery Society” in Philadelphia gegründet, mit William Lloyd Garrison (1805-1879) an der Spitze. Bei dieser Versammlung durfte – was damals sehr selten war – auch eine Frau zu Wort kommen, die Quäkerin Lucretia (Coffin) Mott (1793-1880, Quäker glauben u. a., dass Gott alle Menschen gleichwertig erschaffen hat, Schwarze und Weiße, Männer und Frauen. Außerdem lehnen sie jegliche Gewalt ab. 1848 organisierte Mott die erste öffentliche Frauenrechtskonferenz in den USA. Nach dem Bürgerkrieg war sie die erste Präsidentin der „American Equal Rights Association“). Um auch Frauen die Möglichkeit zu geben, in der Anti-Sklaverei-Bewegung mitzuarbeiten, gründete Mott die „Philadelphia Female Anti-Slavery Society“.

Zur Befreiung von Sklaven engagierten sich auch ehemalige Sklavinnen. Sojourner Truth (1797-1883), die von einem Quäker freigekauft wurde, unternahm Vortragsreisen und kam dabei 1857 nach Battle Creek, Michigan, dem damaligen Hauptsitz der Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten. Truth setzte sich u. a. für mehr Rechte für Frauen ein und sprach sich gegen Tabak, Alkohol und die damals modische Kleidung aus (z.B. das Korsett).

Eine andere ehemalige Sklavin war Harriet Tubman (1820-1913). Sie floh 1849 mit Hilfe der Organisation „Underground Railroad“, einer Organisation zur Befreiung von Sklaven, in der vor allem Quäker aktiv waren, ging danach unter dem Codenamen „Moses“ 19-mal in den Süden und führte auf abenteuerliche Weise über 300 Sklaven in die Freiheit.

Beim „Kompromiss von 1850“ wurde ein Gesetz erlassen, dass Nordamerikaner dazu verpflichtete, die aus dem Süden geflohenen Sklaven auszuliefern. Schwere Strafen wurden denjenigen angedroht, die sich weigerten, die Sklavenfänger und die Regierung zu unterstützen. Außerdem kam es vor, dass freie Sklaven als Geflohene festgenommen und nach kurzem Gerichtsprozess, ohne Recht auf eigene Aussage, in den Süden deportiert wurden (siehe hier u.a. den Film „12 Years a Slave“ (2013), basierend auf der wahren Geschichte von Solomon Northup).

Zu diesem Gesetz äußerte sich Ellen G. White (1827-1915) im Jahr 1859: „Wenn die Gesetze der Menschen dem Wort und dem Gesetz Gottes widersprechen, müssen wir ungeachtet der Konsequenzen Letzterem gehorchen. Das Gesetz unseres Landes verlangt von uns, einen Sklaven seinem Herrn auszuliefern, dem dürfen wir nicht gehorchen; und wir müssen die Folgen dafür ertragen, dieses Gesetz zu verletzen. Der Sklave ist nicht Eigentum eines Menschen. Gott ist sein rechtmäßiger Herr, und der Mensch hat kein Recht, Gottes Wertarbeit in seine Hände zu nehmen und den Sklaven als sein Eigentum zu beanspruchen.” (Testimonies for the Church, Bd. 1, S.201–202; Aus der Schatzkammer der Zeugnisse, 65.)

Bei den Erweckungsversammlungen der 1830er Jahre wurde neben der Sklaverei auch Alkohol als Sünde angeprangert. Viele Männer und Frauen, ja selbst Kinder, waren damals alkoholabhängig. Schulden, Armut und häusliche Gewalt waren nur einige der schlimmen Folgen. Die Quäkerin Susan B. Anthony (1820-1906) gründete 1852 die „New York Women’s State Temperance Society“. Die Anwaltstochter Elizabeth (Cady) Stanton (1815-1902) unterstützte Mott und Anthony. Ihr waren beim Lesen der Gesetzesbücher ihres Vaters die ungleichen Rechte zwischen Männern und Frauen aufgefallen (Verheiratete Frauen hatten u. a. keinen Anspruch auf Besitz, kein eigenes Einkommen, kein Recht auf Bildung, kein Sorgerecht für eigene Kinder und kein Mitspracherecht in der Politik).

Mäßigkeits-Gesellschaften kämpften nicht nur gegen den Verkauf und Konsum von Alkohol, sondern allgemein für Reformen im Gesundheitswesen, in Gefängnissen, im Bildungswesen und für das Frauenwahlrecht. Frauen bekamen erstmals die Möglichkeit, Einfluss auf die Politik und die Gesetze des Landes auszuüben. Vor dem Bürgerkrieg erreichten sie z. B. Gesetze zur totalen Abstinenz von Alkohol. Auch wenn diese nach dem Krieg wieder aufgehoben wurden, blieb das Thema weiterhin aktuell.

Ab 1873 schlossen sich Frauen zusammen, zogen u. a. zu den Saloons und begannen dort lange und laut zu beten, bis die Eigentümer ihre Läden aufgaben. So schafften sie es in 50 Tagen, ca. 250 Saloons „niederzubeten“. In dieser Mäßigkeitsbewegung war die Lehrerin, Rektorin, Dekanatsleiterin und Professorin Frances E. C. Willard (1839-1898) sehr engagiert. 1874 gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern der „Womens’s Christian Temperance Union“ (WCTU) und wurde 1897 die Präsidentin (1874 war die WCTU mit ca. 27.000 Mitgliedern die größte Frauenorganisation des Landes).

Ellen White selbst sprach öffentlich oft über Mäßigkeit (engl. „temperance”). Bei der Zeltversammlung 1876 in Groveland, Massachusetts, besuchten ca. 20.000 Menschen ihre Vorträge (Signs of the Times, 14. Sep. 1876). Sie hat sogar zur Unterstützung der Mäßigkeitsgesellschaften ihrer Zeit aufgerufen: „Gott gab mir die Erkenntnis, dass jedes Gemeindeglied ein solches schriftliche Versprechen [z. B. dem Alkohol zu entsagen] unterzeichnen und der Gesellschaft für Mäßigkeit beitreten sollte“ (Review and Herald, 21. Okt. 1884; Siehe in Ein Tempel des Heiligen Geistes, Advent-Verlag Lüneburg, 2001, S.217-223; Engl. Temperance, S.197-203). Natürlich ging es Ellen White beim Thema Mäßigkeit nicht nur um Alkohol. Sie plädiert für ein ganzheitliches Gesundheitskonzept, denn Reformen waren auch in der Ernährung, Hygiene und medizinischen Versorgung notwendig.

Dorothea Lynde Dix (1802-1887) war eine der Frauen, die sich für ein besseres und vom Staat unterstütztes Gesundheitswesen einsetzte und erwirkte Gesetze zur Errichtung von staatlichen Nervenheilanstalten. Während des Sezessionskrieges war sie Superintendentin der Lazarettschwestern der US-Armee und veranlasste u. a., dass Soldaten aus den Südstaaten genauso wie die aus den Nordstaaten behandelt wurden.

Zur Gesundheitsreform gehört auch die Kleiderreform. Modern war im 19. Jahrhundert die Wespentaille. Geschnürt durch ein Korsett, wurden nicht nur wesentliche Organe in ihrer natürlichen Funktion gestört, was oft zu frühzeitigem Tod führte, sondern die Damen schleiften mit ihren langen, schweren Kleidern den Dreck von den Straßen in ihre Häuser. Frauen wollten nicht länger Sklavinnen dieser Mode sein und plädierten für warme und gesunde Kleidung. Ellen White stimmte dem zu (siehe http://drc.whiteestate.org/read.php?id=9184).

Wenn es um Reformen in der Gesellschaft geht, ist Bildung ein ganz wesentlicher Faktor. Ellen White schrieb sehr viel über Bildung und Erziehung. In meinem letzten Artikel habe ich die Anfänge des adventistischen Bildungswesens geschildert, mit Martha D. Byington Amadon (1834-1937) als erste Lehrerin. In den Reihen der Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten haben neben Ellen White auch andere Frauen Pionierarbeit geleistet und sich für Reformen in der Gesellschaft eingesetzt (Siehe https://women.adventist.org/adventist-women-of-distinguished-service).

Ellen White lebte in einer Männer dominierten Welt und sprach als Frau bei öffentlichen Versammlungen. Mit ihrer Rolle als Prophetin nahm sie eine Führungsrolle in der Adventgemeinde ein. Da gehörte es für sie auch dazu, wenn notwendig, sich mit den leitenden Brüdern auseinanderzusetzen.

In den Schriften von Ellen White liest man viel über Bildung und Erziehung, Gesundheit und Mäßigkeit, auch darüber, dass Gott Männer und Frauen, Schwarze und Weiße, gleichwertig erschaffen hat. Sie ruft dazu auf, dass Männer UND Frauen im Werk Gottes eingesetzt und dafür entlohnt werden: „Frauen werden für das Evangelium genauso dringend gebraucht, um die ihnen anvertraute Arbeit zu vollbringen, wie Männer“ (Evangelism, 491-493). Im Zusammenhang der Buchevangelisation schreibt sie: „Durch den Beistand des Heiligen Geistes Gottes werden Arbeiter, sowohl Männer als auch Frauen, darauf vorbereitet, Hirten der Herde Gottes zu werden“ (Testimonies for the Church, Bd. 6, S.322).

Obwohl Ellen White den meisten Zielen der Reformbewegungen ihrer Zeit zustimmte, sah sie es nicht als ihre Aufgabe an, in der Frauenrechtsbewegung mitzuarbeiten, denn den Lebensstil einiger führender Frauen dieser Gesellschaften lehnte sie strikt ab.

Die westlichen Zivilisationen verdanken heute ihren Wohlstand diesen christlich-protestantisch motivierten Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts und manche Reformen dauern weiter an. Wenn sie jedoch nicht mehr biblisch motiviert sind, wie sollen sie dann gute Früchte bringen? „Jetzt werden Männer und Frauen benötigt, die so treu zu ihrer Pflicht stehen wie die Magnetnadel zum Pol, Männer und Frauen, die arbeiten wollen, auch wenn ihnen der Weg nicht geebnet und nicht jedes Hindernis beseitigt wird“ (Botschafter der Hoffnung, 69.3)

Hinweis: Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift Salvation & Service, Ausgabe 4, 2019, Nr. 60, S.38-41

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